Die Dicke, die ihre Kinder im Liegen vom Sofa aus groß gezogen hatte, war schon fertig mit dem Essen. Mundraub beim Tischnachbarn war ausgeschlossen, da sich eine Pflegekraft der Tischrunde angeschlossen hatte. Der alte Musiklehrer, einziger Mann am Tisch, zu dement, um das Klo als solches zu identifizieren, aber verbal intelligent und witzig, hatte seine Hände aneinander gelegt und fuhr sich die Nase damit auf und ab, den Blick schwer nachdenklich schräg nach oben gerichtet als sich ein durchdringender, dem Wahn verfallender Schrei aus der hinteren Ecke des Wintergartens über die Vierergruppe ergoss und die idyllische Atmosphäre jäh beendete.
„Die Weiber sind alle böse“, musste der Lehrer sich einer Frau anvertrauen. Die von ihm angesprochene, zu seiner linken sitzende, mit Empörung aufblickende, kleine Alte im Rollstuhl, die eben noch friedfertig mit der Gabel die Karotten auf dem Teller angeordnet hatte, fuhr mit dem Kopf zur Seite. Selbige, sonst eher von humorvollem Gemüt, konnte man zum Explodieren bringen, wenn gewisse Dezibel überschritten waren. Eine Flut fäkalen Vokabulars und diverse Drohungen ergossen sich dann über den Urheber der Geräusche, und sie äußerte sich auch diesmal nicht spröde, „ich könnte sie erwürgen, die alte Ziege!“ Die Hagere im Rollstuhl in der Ecke, die man liebevoll, ihren Willen ignorierend, seit Jahr und Tag per Sonde ernährte und der man so noch ein paar schöne Jahre im Wintergarten der Dementenstation aufzwang, blickte sich mit leicht irrem Blick suchend um, dann entfuhr ihrer geschundenen Seele ein neuer, schriller Schrei.
Der Groschen fiel. „Man sollte sie notschlachten, einfach notschlachten“, hatte der alte Musiklehrer nun die Lösung parat. „Also, es ist u n v e r s c h ä m t.“, bemerkte die kleine Geräuschempfindliche gedehnt, aber der alte Lehrer hatte schon, ob seiner guten Idee ein hämisches Lächeln auf dem Gesicht, dass seine fehlenden und abgebrochenen Zähne entblößte. Die Dicke und die kleine Alte im Rollstuhl verfielen in Gelächter. Selbst die renitente, stark auf die 100 zugehende Depressive, die ihre Tage mit kurzen Unterbrechungen weinend verbrachte, diese aber zuweilen mit giftigen Attacken auflockerte, konnte sich ein Kichern nicht verkneifen. Sie hatte eskapadenlos aufgegessen, lediglich ein paar übriggebliebene Karotten zierten ihren sonst leer gegessenen Teller. Nun war sie beim Dessert angelangt.
Die Dicke, die ihre pathologische Bequemlichkeit gerne damit erklärte, dass sie als Jugendliche hatte Schienen verlegen müssen, erhob sich breitbeinig, um nach ihrem Rollator zu angeln, der auf wundersame Weise unter ihrem Gewicht noch nicht zusammen gebrochen war. Die kleine Alte im Rollstuhl verfolgte das Bestreben der Dicken interessiert. „Hat diiie einen fetten Arsch“, fasste sie das Gesehene sorglos in Worte. Breites Grinsen, erneutes Gelächter, ausgenommen von der Dicken, der der liebe Gott auch noch Schwerhörigkeit bei Bedarf hatte zukommen lassen. Schlürfend schob sie sich am Tisch vorbei in Richtung Ausgang.
„Fragt der Bischof den Pater“, der alte Lehrer unterbrach sich und sah sich um, ob auch sonst niemand zuhörte: „...also fragt der Bischof den Pater:`Pater, leiden sie auch immer so unter Blähungen?`“ Erneut blickte sich der Witzeerzähler um, ob sich die sechs Augen am Tisch auch nicht vermehrt hatten und wagte sich schließlich flüsternd zur Pointe vor: „... `nein, Herr Bischof, nur unter Ihren`.“ Der alte Musikus lachte zuerst über seinen Witz.
Ein neuer Schrei durchbrach die aufkommende Ruhe und die geräuschempfindliche Alte war entfesselt. „Also wenn ich aufstehen könnte“, polterte sie drauf los, „ würde ich sie erschlagen. Das glaubst Du doch wohl. Das ist nicht zum Aushalten! Und Iiihr habt sie sicherlich zu Eurem Vergnügen hier“, unterstellte sie der am Tisch sitzenden Pflegekraft, sicher endlich die wahren Übeltäter der ganzen Misère überführt zu haben. „Genau, nur zur Belustigung und um Sie zu ärgern“, gibt diese lachend der Unterstellung Nahrung.
Das letzte Lied der CD `Tafelmusik für Demente`, die Tag für Tag zum Mittagessen eingelegt wurde, erklang. „Ach Kinder, glaubt mir, da gibt `s nur eins, notschlachten“, beendete der alte Musiklehrer die mittägliche Konversation und das gemeinsame Essen.

Es macht mir Spaß deine Geschichten zu lesen. Sie sind kurz und bündig, mit wenigen Sätzen ist viel gesagt worden, die Texte sind witzig und sehr gut geschrieben. In dir steckt viel Talent und Potenzial.
AntwortenLöschenÜbrigens, kannst du die Geschichte „Tischgespräche im Wintergarten“ vielleicht erweitern, so dass daraus ein Theaterstück entstehen kann?
Ich hoffe, bald gibt es etwas Neues zum lesen.